Anleitung, die Deutschen zu lieben

Wenn alles anfängt

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© il Deutsch-Italia
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Es ist immer ein Fehler oder ein Vorwand, den Anfang oder das Ende einer Liebe oder einer historischen Ära genau festzulegen. Denkt man: »Das ist jetzt der Augenblick, in dem alles anfängt oder endet, eine große Leidenschaft oder eine soziale Revolution«, dann ist alles längst schon vorbei, und wir haben es gar nicht gemerkt, oder es hat ohne unser Wissen begonnen. Wir sind dann schon in einem neuen Jahrzehnt oder in einem neuen Jahrhundert, das natürlich nie mit der Mitternacht des 31. Dezember übereinstimmt, wie Kalender und oft auch Historiker und Soziologen sich das so vorstellen.

Für mich war der Augenblick des Anfangs am 19. Dezember 1989 gegen sieben Uhr abends vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche. Kanzler Kohl hätte keine geeignetere Zeit und Stelle wählen können, um vor den künftigen Landsleuten seine »historische Rede«, wie er sie nannte, zu halten.

Die Tribüne war im Herzen Dresdens errichtet worden; das Elb­florenz wurde in den letzten Kriegsmonaten durch alliierte Bomben zerstört, die vielleicht 100 000 Zivilisten töteten (wie viele es genau waren, werden wir nie wissen), zumeist Alte, Frauen und Kinder, um die Moral der Truppen an der Front zu brechen (aber da hatte Chur­chill sich verrechnet). Dresden ist das Symbol dafür, daß Deutschland auch Opfer und nicht nur Täter ist.

Der riesige blau gekleidete Kanzler hob sich in einem Freudentanz funkelnagelneuer schwarzrotgoldener Fahnen – die jetzt keine Symbole mehr trugen – gegen die untergehende Sonne ab; von einem Karussell des nahegelegenen Vergnügungsparks, das altmodisch war, aus lackiertem Holz und ohne elektronisches Geglitzer, wie es in diesem Land, noch Ostdeutschland, üblich war, klangen Weihnachts­lieder herüber, die keine Grenzen haben: O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter, während Kohl über meinem Kopf immer wieder ein weiteres heiliges Wort wiederholte: Vaterland, eine historische Stunde für das Vaterland, und die Fahnen wehten mir ins Gesicht. Die alten aus Baumwolle, aus deren Mitte die Ähren und der Zirkel der DDR herausgeschnitten und die dann geschickt wieder zusammengenäht worden waren, und die ganz neuen aus synthetischem Material, glänzend und glatt.

»Wo sind die Fahnen denn her?« fragte ich die umstehenden Leute.
»Unsere Frauen haben sie selbst genäht.«

»Die sind ja alle gleich«, meinte ich. Ein Kollege zog mich im richtigen Augenblick nach hinten. Ich hatte das Mißtrauen um mich herum nicht bemerkt. Die Fahnen waren zu Hunderten von rechten Gruppen aus dem Westen geliefert worden, vor allem von den Republikanern des ehemaligen SS-Mannes Franz Schönhuber. Gruppen junger Leute mit DDR-Flaggen waren gekommen, wurden aber nicht besonders rücksichtsvoll weggedrängt. Meiner Meinung nach war der Platz vor der Frauenkirche nicht gerammelt voll, es waren nicht mehr als zehntausend, vielleicht zwanzigtausend Menschen, die Karusselle liefen ungestört weiter, und Familien standen Schlange, um Zuckerwatte zu erstehen.

Als ich am selben Abend die Szene im Fernsehen sah, hatte ich einen völlig anderen Eindruck. Laut Nachrichten waren hunderttausend, zweihunderttausend gekommen, die Fernsehkameras sparten die leeren Flächen aus. Kohls Schauspiel auf dem Bildschirm gegen die untergehende Sonne, das Fahnenmeer, die Hymnen und das wie besessen wiederkehrende Wort Vaterland, hätten sogar einen Zeffirelli erröten lassen. Für die Geschichte werden immer die zweihunderttausend im Fernsehen gegen meine zehntausend gelten, aber eine solche Bilanz spielt keine große Rolle.

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